Belcanto am Broadway Gesang im Musical CAST

Im deutschsprachigen Raum ist Musical ein relativ neues Genre. Erst im Jahr 1986 mit der Premiere von Cats in Hamburg fing es an, als eigenständige Szene anerkannt zu werden.

Zu diesem Zeitpunkt gab es sehr wenige Darsteller, die man als „Musical-Darsteller“ bezeichnen würde. Für die ersten Großproduktionen kamen zahlreiche Performer als Importware aus England oder Amerika. Auf dem deutschen Markt gab es kaum die passende Besetzung. Man hatte sozusagen einen Markt ohne die notwendigen Fachkräfte. 

Als erste staatliche Einrichtung hat das Musical-Studio-München diplomierte Sänger, Tänzer und Schauspieler in einer einjährigen Fortbildung zu Musical-Darstellern weitergebildet.  Nach einem Jahr Laufzeit war diese sehr viel versprechende Schulung eingestellt.  Heute bilden vier staatliche Hochschulen und mehrere Privatschulen im Fach „Musical“ aus.  

Aber  viele Wege führen zur Musical-Bühne. Bevor es die Möglichkeit einer formellen Musical-Ausbildung gab, haben reine Schauspieler, Tänzer und Sänger die Hauptrollen in Musicals übernommen. Ende der 80er Jahre, beispielsweise, als das Musical Guys and Dolls am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg auf den Spielplan gesetzt war, habe ich  mit den für die Rollen vorgesehenen Schauspielern gearbeitet, um sie auf die gesanglichen Anforderungen vorzubereiten. Alle hatten bereits Gesangsunterricht in der Ausbildung oder privat und waren zum Teil sehr fortgeschritten. 

Amerikanische Filmschauspieler treten häufig als Musicaldarsteller auf.  Antonio Banderas, Jonathan Price und Lawrence Guittard sind keine Seltenheit am Broadway oder West End.  

Es ist den wenigsten bekannt, dass Richard Gere die Hauptrolle in der Original-Produktion von Grease in 1973 am West End in London gespielt hat. Er hat also nicht erst für die Verfilmung von Chicago das Singen gelernt.

Welche Qualitäten werden erwartet?

Klassische Schauspieler, Tanzsolisten, Opernsänger, Pop- und Rock-Sänger durfte ich im Laufe der Zeit zur Musical-Bühne begleiten. Meines Erachtens ist für jeden Bühnenberuf darstellerisches Talent die wichtigste Voraussetzung. Außer einer guten Stimme und Bewegungsbegabung muss man auch eine ausgeprägte Musikalität mitbringen. Ohne die funktioniert es wirklich nicht.

Was versteht man unter Musical-Gesang?

In den USA, dem Ursprungsland des Musical-Theaters, war die Musik, die vor 1920 am Broadway gespielt wurde, hauptsächlich klassisch. Die Divas der Metropolitan Opera hatten eine ähnliche Stellung wie die Rock Stars von heute. Allerdings gab es parallel dazu  andere Gesangstile, wie Jazz, Blues und Volksmusik. Aber die Musik für die breite Masse, die am Broadway gesungen wurde, stammte aus der klassischen Tradition.

Durch den zunehmenden Einfluss des Schwarzen Gesangs, Irisch-Amerikanischen Gesangs und Jüdische-Kantoralen Gesangs entwickelte sich ein neuer Gesangstil. Gleichzeitig spielte die Textverständlichkeit eine zunehmend wichtigere Rolle und die Sprechstimme wurde stärker  in die Singstimme integriert. 

Das moderne Musical-Repertoire verlangt eine breite Spanne an Gesangsqualitäten. Wenn man West Side Story mit Les Miserables oder Rent vergleicht,  findet man alles vom Legitimate, also, klassisch-angelegten Gesang bis Pop- oder Rock-Gesang. Um eine bessere Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben, muss der Musical-Sänger in der Lage sein, die verschiedenen Singstile zu bedienen.Die Stimme ist ein äußerst flexibles Organ. Durch ihre Beweglichkeit ist sie in der Lage, zahlreiche Klangfarben zu produzieren. Der Kehlkopf ist nicht in einer Position fest verschraubt. Es gibt mehrere Möglichkeiten, den Stimmapparat einzusetzen und für jede Klangmöglichkeit gibt es eine optimale Technik.

Keine bestimmte Klangfarbe ist gut oder schlecht im Vergleich zu den anderen. Sie haben alle ihre Gültigkeit. 

Da der Musical- und Pop-Gesang eindeutig vom Belcanto-Gesang abstammt, bleibt die Frage, welche Aspekte des klassischen Gesangs finden sich im populären Gesang wieder und wo gehen diese Gesangtechniken auseinander?

Eine ganze Reihe von technischen Gesichtspunkten sind für beide Gesangstile zutreffend.

Voraussetzung für jede Stimme ist eine gute Körperhaltung. Diese hängt auch unmittelbar mit der Atmung zusammen. Dazu gehört der Abbau von Verengungen, der Spannungs-aufbau, die Koordinierung von Stimme und Körper, der Stimmlippenschluss, die Vokalbildung und der Vokalausgleich, das Registertraining und die Koordinierung.

Im klassischen Gesang gilt der Schönheit der Stimme die höchste Priorität.  Im Musical dient die Stimme dem Text, der Rolle und dem Stil.  Das Stimmtimbre wird als dramaturgisches Ausdrucksmittel eingesetzt.  Das Textverständnis hat die höchste Priorität und das schauspielerische Element gewinnt an Wichtigkeit gegenüber der Schönheit der Stimme.

Dazu kommt der gesprochene Text. Häufig mündet eine Textszene in ein Lied. Dadurch nähert sich die Singstimme der Qualität der Sprechstimme etwas an, um eine homogene Einheit zu bilden. Die Qualität der Gesangstimme wird deutlich vom Sprechen abgeleitet, daher der typische Broadway-Sound.

Die Kehlkopfposition ist in der Regel im Musical- und Pop-Gesang flexibler. Man geht von einer neutralen Stellung aus, ähnlich wie beim Sprechen.  Diese Position verleiht dem Klang mehr Sprachqualität. Eine höhere Kehlkopfposition stimmt die Stimme heller und penetranter. 

Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass beide Qualitäten, die klassische und die populäre, sich gegenseitig befruchten.

Wenn man die Ausschreibungen für das Musical-Vorsingen verfolgt, wird man häufig mit dem Begriff Belter konfrontiert. Dies ist die extremste Gesangsqualität, die wir in der westlichen Welt kennen – auch im Vergleich zum klassischen Gesang. Belting stammt ursprünglich von einer Naturfunktion ab, dem Rufen (yelling).  Pop- und Gospelsänger, Country-Sänger, Volkssänger, alle benutzen diese Klangfarbe.  Belting ist kompromisslos, extrem ehrlich, wie wir im englischen sagen, „in your face“. Diese Form des Gesangs ist nicht unumstritten und leidet häufig unter dem schlechten Ruf als stimmschädigend.  Belting kann gelernt und trainiert werden, wie jede andere Qualität. Und es ist genauso gefährlich, wie jede andere Gesangsqualität, die viel Kraft und Intensität verlangt. Wie in jeder Form des Gesanges müssen Belters lange trainieren, um die nötige Kraft, Ausdauer und diesen unverkennbaren Stil zu erlangen.

Alle Stimmen sind von sich aus flexibel und in der Lage, zahlreiche Klangfarben mit gesunden Mitteln zu erzeugen. Man kann jede Qualität definieren und gezielt trainieren. So bleibt die Stimme auf Dauer vielseitig. Immer mehr klassische Pädagogen öffnen sich mittlerweile zum Popular- und Musical-Gesang, um nicht an diesem neuen Bedarf vorbei zu unterrichten. Ein Verlust an künstlerischem Anspruch ist es mit Sicherheit nicht. Aber die unterschiedlichen Techniken könnten sich gegenseitig befruchten. Ich stelle immer wieder fest, dass beide Gesangstile miteinander mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede haben.

Jeder Bühnendarsteller weiß, dass der Weg zur Bühne erst in der Regel über eine Audition führt. Vielleicht ist das eben typisch für das Genre Musical, diesen zum Teil unkünstlerischen und „nervtötenden“ Vorgang in einem Stück zu thematisieren. Das Bühnenstück A Chorus Line, das auch später ein Kinoerfolg wurde, führt uns vor, was man von einem Musical-Darsteller verlangt.  Alles – und zwar alles gleichzeitig!

Prof. Noelle Turner