Der Niedergang des Bel Canto in der Gesangspädagogik nach Cornelius L. Reid
Durch den Fortgang gesangs-pädagogischer Konzepte vom 17. Jahrhundert bis etwa 1950 sind zwei Entwicklungen auffällig:
Zum Einen die Abkehr von Stimme und Stimmentwicklung, zum Anderen die Abnahme der Lehrerverantwortlichkeit. Während die Kernpunkte der pädagogischen Konzepte von Tosi und Mancini fast ausschließlich mit
stimmlichen Phänomenen arbeiten (Vokalbildung, Registerkoordinierung), treten in den modernen Schulen Arbeitsschwerpunkte in Erscheinung, die nicht im Zentrum stimmlicher Parameter ansetzen, sondern in deren Peripherie (Atmung, Entspannung, Resonanz). Sie stellen sekundäre Arbeitskomplexe guter Gesangstechnik dar.
Es wurde so versucht, über verbale Anweisung eine bewusste Steuerungkörperlicher Vorgänge, wie die des Atmens oder des Ansatzrohrs, vorzunehmen, in der Hoffnung, eine Verbesserung der Stimmqualität zu erzielen. Der zentrale Punkt der Registerentwicklung (z.B. durch Vokalisen)
wurde dagegen grob vernachlässigt. Phänomene wie Atemökonomie oder eine bestimmte Qualität der Resonanz werden sich bei Schüler:innen jedoch nur einstellen, wenn die Koordinierung der Kehlkopfmuskulatur in ihren natürlichen Prinzipien etabliert und dem Entwicklungsprozess vorangestellt wird.
Zudem oblag es im 17. und 18. Jahrhundert noch größtenteils der funktionalen Hörfähigkeit und dem handwerklichen Geschick der Lehrenden, die Register der Stimme mittels passender Übungen zu entwickeln und zu vereinigen. Der Zugang zur Stimme der Schüler:innen wurde hier nicht über das Wort, sondern die vom Lehrer ausgewählten Übungen vollzogen. Im späten 19. und im 20. Jahrhundert fällt den Schüler:innen vermehrt die Aufgabe zu, nach zum Teil diffusen verbalen Anweisungen der Lehrenden („Stütze!“, „Sing auf dem Atem!“ „Bring den Ton weiter nach vorne!“) die mangelhafte, stimmliche Koordination selbst zu justieren.
Prof. Noelle Turner