Musical-Singen mit Jugendlichen Bel Canto am Broadway

Musical-Singen mit Jugendlichen Bel Canto am Broadway

Durch die Beliebtheit des aktuellen Pop-und Musical-Repertoires bei den Kindern und Jugendlichen werden Musik-und Gesangslehrer*innen vor zunehmend größere Herausforderungen gestellt.
Das Musical-Repertoire umfasst mehrere Epochen mit zahlreichen Gesangsstilen vom Legitimate, oder Legit (ein klassischer Gesangsstil in einem nicht-klassischen Kontext) bis Belting (eine starke, metallische, brustdominante Stimmgebung). Bis ca. 1968 waren die weiblichen Hauptrollen in der Regel für Sopran geschrieben. Seit Ende der 60’r Jahre ist das Musical- Repertoire zunehmend von der Pop-Musik beeinflusst worden. Der Ambitus (Tonumfang) der Lieder für Frauen ist sukzessiv tiefer geworden und die Rollen verlangen nun viel Kraft und Brustdominanz in der mittleren Oktave. Dies widerspricht der natürlichen Veranlagung der weiblichen Stimme, dessen Tragfähigkeit tendenziell in der höheren Lage überzeugt. Auch die männlichen Partien verlangten vor diesem Trend eher baritonale Stimmen. Dagegen ist das heutige Repertoire für die Männerstimmen häufig extrem hoch und (zum Teil) sehr rockig oder beltig. Diese Tendenzen bringen auch reife, erfahrene Sänger an oder über die Grenzen ihrer stimmlichen Möglichkeiten. Dies bedeutet eine offensichtlich nicht aufzuhaltende Tendenz zur Hyperfunktionalität, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen.
Mir wird oft die Frage gestellt, ob das Musical-Repertoire für junge Stimmen schädlich ist. Jede Überforderung der Stimme ist gefährlich. Kein Genre schützt uns vor Stimmschwierigkeiten. Auch unter den Opernsängern sind Stimmabstürze nicht unbekannt.

Es ist zudem kein neues Phänomen, dass junge Sänger versuchen, ihre (Pop-und Musical) Idole zu imitieren. Das ist übrigens im klassischen Gesang nicht anders. Sie hören die Aufnahmen von erfahrenen Sängern und versuchen, die Klangfarbe und Intensität der Stimme nachzumachen.
In der Pop-und Musical-Literatur ist das Imitieren an sich ein wesentlicher Widerspruch. Die Essenz von populärer Musik ist Authentizität. Der Versuch, einen berühmten Sänger zu imitieren, kann nur scheitern, wenn die notwendigen stimmlichen Mittel fehlen. Sind die natürlichen Reflexe des Stimmorgans inaktiv, unausgebildet oder blockiert, greift die Stimme auf Kompensationsmechanismen zurück, um eben diese fremden Klangqualitäten zu rekonstruieren.

Die Stimmgebung unterliegt einem organischen System, die nach natürlichen Gesetzmäßigkeiten arbeitet. Wenn alle Teile dieses Systems funktionieren, ist eine freie und differenzierte Stimmgebung gewährleistet. Wenn jedoch ein oder mehrere Teilbereiche nicht optimal funktionieren, kann man leider die Stimme dahingehend zwingen, gegen ihre natürliche Struktur zu arbeiten. Unsere Stimmen reagieren auf Befehl. Wenn die erforderlichen Mittel noch nicht vorhanden sind, mobilisiert die Stimme alles, was sie zur Verfügung hat, um unserem Befehl, unserer Vorstellung einer bestimmten Klangqualität zu entsprechen. Häufig sind diese Mittel Überdruck und Verengung, die für die fehlenden Funktionen einspringen.
Das Resultat klingt für ungeschulte Ohren oft verblüffend „gut“. Der Stimmklang ist lauter, kerniger und stabiler. Der unerfahrene Sänger verwechselt das Gefühl der erhöhten Anstrengung mit Kraft und Lautstärke. Es „fühlt sich“ kräftiger an, obwohl das Klangergebnis das selten bestätigt. Wenn die Stimme nicht frei schwingt, stimmen die Resonanzfaktoren nicht und der Klang implodiert und ist nicht tragfähig. Aber weil der Klang reifer und kräftiger klingt, erhalten die Kinder und Jugendlichen für diese Leistung häufig viel positives Feedback und fühlen sich dadurch bestätigt.

Wenn die Stimme überfordert ist, sind die Signale oft dezent, wie das Gefühl von Enge oder Heiserkeit. Da ist selten ein Schmerz, wie bei einer körperlichen (sportlichen) Verletzung. Es tut nicht wirklich Weh. Der erfahrene Sänger nimmt das in den meisten Fällen als ein Alarmzeichen wahr. Wenn demnach die Wahrnehmung für die Stimme noch nicht in frühen Jahren sensibilisiert ist, werden Überdrück und Hyperfunktionalität des Stimmapparates nicht als unangenehm registriert.

Daher ist die sängerische Früherziehung von enormer Wichtigkeit. In den Vor-und Grundschulen existieren mittlerweile sehr effektive Projekte und gut ansprechende Methoden, die auf spielerische und natürliche Weise mit Kindern die Stimme entdecken. Die Grundlage dafür muss sehr früh gelegt werden, am Besten schon im Vorschulalter, wenn nicht schon früher. Wenn ein Kind die Erfahrung gemacht hat, wie eine freie Stimme sich anfühlt, wenn sie organisch arbeitet, schult es eine Wahrnehmung für freies reflektorisches Singen. Macht ein Kind die Erfahrung, wie sich eine freie Stimme anfühlt und wie sie organisch arbeitet, so schult es seine eigene Wahrnehmung für freies, reflektorisches Singen. Ein Kind, das schon früh diese Sensibilität für die Stimme entwickelt, erlangt eine Vergleichsmöglichkeit und würde unmittelbar spüren, wenn die Stimme einer Überforderung oder unorganischen Klangstrategien ausgesetzt ist. Ohne diese früh angelegte Sensibilität wird Hyperfunktionalität kaum oder gar nicht wahrgenommen.

Die aktuellen Musical-Songs, mit ihren poppigen Rhythmen und emotionalen Melodien und Texten sprechen den jungen Sängerinnen an. Genau diese Songs sind aber selten für die Entwicklung einer jungen Stimme geeignet. Dabei bietet das gesamte Musical-Repertoire eigentlich unzählige kinder-und jugendgerechte und ausdrucksstarke Songs aus diversen Stilrichtungen. Die Lehrperson kann aus diesem Repertoire-Pool stimmfördernde Lieder vorzuschlagen, die den jeweiligen Schülerinnen thematisch und stilistisch entsprechen. Daher ist es essentiell, sich als gesangspädagogische Lehrkraft mit dem ergiebigen Repertoire zu befassen.

Die Entwicklung des Musicals erstreckt sich von 1927 bis in die heutige Gegenwart. Daher blickt man auf ein riesiges Spektrum im Repertoire zurück. Es gibt Songs für jede Stimmlage, jeden Schwierigkeitsgrad, jedes Thema, in einer Vielfalt von musikalischen Stilen, von Klassik bis Pop, über Jazz, Swing, Gospel, Rap, Rock, Country und Broadway. Es gibt „Lernlieder“ für jede Altersgruppe und jede Lernstufe. Für die Jüngsten gibt es schwungvolle, stimmfördernde, jugendgerechte Songs. Auf Grundlage der Lieder des sogenannten „Golden Age of Musical“ (Stücke komponiert bis ca. 1968, wie von Frederick Loewe, George Gerschwin, Cole Porter, Richard Rogers, u.a.) kann sich die Stimme (unter guter Anleitung) fast von alleine entwickeln und ersetzt die technische Arbeit.

Das Musical-Repertoire kann überdies als eine sinnvolle Vorbereitung, als Rampe zum klassischen Repertoire dienen. Es birgt in sich das Potenzial, junge Menschen für Gesang zu begeistern. Diejenigen, die eine Affinität für die klassische Literatur aufweisen, werden es höchstwahrscheinlich mit der Zeit für sich entdecken.

Musical ist weniger eine Gesangsform als eine Theaterform. Zu den Liedern gehört eine darstellerische Komponente, die im Pop-Repertoire selten vorhanden ist. Der Vorteil davon ist, dass die Sängerin und der Sänger eine Rolle szenisch verkörpern. Es ist für einen jungen Menschen oft leichter, Zugang zu einem Gefühl, zu einem Ausdruck, zu den eigenen Emotionen zu finden, wenn man nicht sich selbst, sondern eine andere Person spielt. Dadurch haben junge Sängerinnen und Sänger (gerade in schwierigen Entwicklungsphasen) eine Ausdrucksmöglichkeit für das scheinbar Unausdrückbare. Das Singen und Erarbeiten von Theater-Songs bieten ein Ventil für Konflikte und Probleme. Sie sind die geeignete Plattform, eigene Gefühle aufzuarbeiten, ohne privat oder persönlich zu werden.

Um das Imitieren, mit der häufig darauf folgenden Stimmproblematik zu vermeiden, kann man als Lehrkraft die Jugendlichen dazu bewegen, die Lieder mit ihren schon vorhandenen stimmlichen Mitteln zu singen. Musical-Songs werden oft mit einem bestimmten Sänger identifiziert. Ein junger Kehlkopf hat selten die Mittel, die Klangqualitäten eines Erwachsenen zu produzieren. Insofern die Stimmlage der eigenen Stimme entspricht, kann man fast jede Nummer mit den bereits vorhandenen Klangqualitäten gestalten. Es entsteht eine individuelle Interpretation des Liedes, die genauso gültig ist, wie die Version des Profis. Dies fördert die Akzeptanz für die eigene Stimme und letztendlich für sich selbst. Die eigene Kreativität wird dadurch gefördert.

Die Individualität jeder Stimme ist von Natur aus vorbestimmt. Dazu gehören Klang, Emotion und Musikalität. Unsere Stimmen verkörpern und reflektieren unser ganzes Wesen. Wir betrügen junge Menschen um ihre persönliche Entwicklung, wenn sie mit den Qualitäten und (zum Teil) Einschränkungen ihrer Idole singen. Eine junge Stimme muss unbedingt jung klingen dürfen. Echter, ehrlicher Gesang ist wesentlich interessanter als ein Imitat. Man sollte den eigenen Klang erforschen und sich nicht an fremden Vorbildern orientieren.

Der Mensch ist geboren zum Singen. Frederik Husler und Yvonne Rodd-Marling haben das in ihrem Werk, „Singen, die physische Natur des Stimmorganes“, (3) sehr treffend beschrieben, „Dass das Kehlorgan als spezifisches Gesangsinstrument geplant und angelegt ist, das lässt sich vielleicht schon daraus ersehen, dass sich die Stimmbandränder in eine harmonikale Ordnung aufteilen lassen, was kaum anderem dienen kann, als „zwecklose“ ästhetische Sensationen hervorzurufen.“

Die Entwicklung der Gesangstimme bezieht alles mit ein, was die Evolution dem Menschen mitgegeben hat: Körper, Geist, Verstand, Intellekt, Emotionen, Intuition, Reflexe. Wenn man das alles re-aktiviert, kann man sagen, dass der Mensch durch Gesang vollkommen wird. Der natürliche Zustand des Menschen mit all seinen Komponenten wird wieder hergestellt. Die Musik- und Gesangslehrenden bringen den Menschen zurück auf seine echte Natur. So gesehen sind sie die wahren Umweltaktivisten!!!

Im 21.Jahrhundert sind wir aber sehr weit von unserer Natur entfernt, mit allen Konsequenzen. Wir leben in einer zunehmend unnatürlichen Welt. Das stimmliche Erbe, das wir von der Evolution bekommen haben, wird systematisch unterdruckt. Die Stimme eines Babys besitzt Tragfähigkeit, Ausdauer, Umfang und Modulierfähigkeit. Kinder werden sehr früh dazu erzogen, leise zu sein. Von einem Umfang von mehreren Oktaven verwenden wir 3 bis 5 Halbtonschritte. In Laufe der Zeit schlafen die stimmlichen und körperlichen Kräfte ein, die wir von Natur aus besitzen, werden blockiert oder sogar atrophiert. Die derzeit vorherrschenden Qualitäten von vielen modernen Sängern sind der Beweis für die stimmliche und körperliche Degeneration unserer Zeit.

Jede Emotion, z.B. lachen, weinen, stöhnen, seufzen, ist mit einer stimmlichen Äußerung verbunden. Diese natürlichen Laute gelten in unserer Zivilisation als peinlich oder kindisch. Dabei unterdrückt man nicht allein die Stimme, sondern auch die verknüpfte Emotion. Daher ist das Singen, gerade in sensiblen Entwicklungsphasen (z.B. in der Pubertät) von enormer Wichtigkeit.

Die heutige Gesellschaft ist widersprüchlich. Die Popularmusik, die die jungen Leute gerne hören, ist laut, häufig mit extremer Stimmgebung und von überladener Emotionalität. Doch stimmliche Laustärke und ausgelebte Emotionalität werden im Alltag unterdrückt. In unserer Zivilisation ist die Stimme untrainiert. Wenn man dann das produzieren will, was diese Lieder von der Stimme verlangen, fehlen die Mittel.

Mit gutem Training und mit Zeit und viel Geduld entfaltet sich das individuelle Potential jeder einzelnen Stimme. Aber gerade Zeit und Geduld sind Qualitäten, die bei der jungen Generation nicht im Übermaß vorhanden sind. Der Gesang fällt dem Zeitgeist zum Opfer. Im Vortrag „On Millenials in the Workplace” von Simon Sinek, (6) Journalist, Autor und Dozent für Kommunikation an der Columbia Universität, beschreibt er eine Tendenz dieser Generation, die unsere Arbeit mit jungen Stimmen beeinträchtigt. Wir leben in einer Hochgeschwindigkeitsgesellschaft. Durch Google und Co. hat man in Sekundenschnelle Zugang zu jeglicher Information. Menschen sind sofort über Handys oder WhatsApp zu erreichen. Facebook sorgt für schnelle und zahlreiche Kontakte und schafft den Schein von schnell entwickelten Freundschaften und Beziehungen. Das hat alles Vorteile, aber dadurch haben gerade junge Menschen, die sich intensiv mit diesen Errungenschaften beschäftigen, weniger Gelegenheit, sich in Geduld zu üben. Sie sind nicht mehr gewöhnt, sich auf Prozesse einzulassen. Dadurch versucht man, eine langzeitige Entwicklung zu umgehen und auf der Überholspur zum Ziel zu kommen. Kurzfristige Erfolge werden erstrebt. Gerade in den Genres Pop-und Musical-Gesang tauchen fast stündlich neue, trendige Methoden auf, die gerade das versprechen. YouTube, ein beliebtes Medium bei dieser Generation, ist voll davon.

Manche Methoden verführen dazu, den inneren Prozess der Beziehungsaufnahme zu sich selbst und damit auch zur Welt zu umgehen. Man wende Methoden an, dies bedeutet man ist nicht selbst im Prozess, Die Anwendung von Methoden ist ein äußerer Weg, der nur kurzfristig scheinbare Erfolge bringt. Es ist sozusagen fremdbestimmt. Sie haben oft eine sofortige Placebo- Wirkung, die in der Regel nicht sehr lange anhält. Es ist aber in der menschlichen Natur die leichteste Lösung zu finden. Man könne von einem sogenannten „Fast Food“-für den Gesang sprechen: die kommt sofort, die negativen Folgen kurz hinterher und das häufig mit bleibenden Schäden. Wir dürfen auf keinen Fall unphysiologische Muster bedienen, nur weil sie dem vermeintlichen Zeitgeist entsprechen.

Eine sinnvollere Lösung diesen Konflikts wäre es, eine stimmtechnische Basis effektiv zu erarbeiten, um den Herausforderungen des modernen Repertoires gerecht zu werden. Die Wiederherstellung der Gesangsstimme mit all seinen Komponenten ist ein komplexer Vorgang. Man darf die Arbeit der Gesangslehrerin und des Gesangslehrers nicht unterschätzen. Ein Sänger muss sein Instrument „bauen“, bevor er darauf spielen kann. Bei dem Klavierschüler wäre es vergleichbar, als wenn er zuerst Klavierbau lernen musste, bevor er auf dem Klavier überhaupt spielen lernt. Alle Muskeln, Bänder und Knorpel des Stimmorgans müssen in ihren Original-Zustand gebracht werden, bevor man die Stimme als Instrument „spielen“ kann. In der Regel hat die Stimme alles, was nötig ist, um jedes Repertoire zu bewältigen.

Der Grundaufbau der Stimme gehört zu jedem Unterricht. Diese Phase des Trainings ist genre-neutral. Formen wir als Lehrer eine Stimme in eine Popular- oder Operngesangstimme? Sollen wir einen Sänger für den klassischen Gesang anders ausbilden als einen Pop-oder Musical-Sänger?? Die negativen Folgen solcher spezialisierten Ziele sind vorprogrammiert, wenn die Stimmen einseitig ausgebildet werden. Sicherlich besteht die Rolle einer verantwortlichen Gesangslehrerin und -lehrers darin, eine Stimme im Einklang mit ihrer Natur so auszubilden, dass sie in jeder Hinsicht gut funktioniert.

Form follows function. Wenn das Stimmorgan reflektorisch arbeitet, kann man in jedem oder sogar in mehreren Genres singen.

Oft stellt sich die Frage, in wie fern sich klassisches Training für Pop-und Musicalgesang eignet? Seit Jahrhunderten beweist die klassische Stimmbildung ihre Fähigkeiten, die physischen und technischen Voraussetzungen für die Bewältigung der enormen Beanspruchung der Stimmorgane zu schaffen.

Was verstehen wir unter dem Begriff Bel Canto? Peter Berne schafft Klarheit in seinem Vortrag über Bel Canto(1). Die Benennung bezieht sich auf drei verschiedene Sachen; eine Epoche, eine Gesangs-Stilistik und eine Gesangstechnik. Wir befassen uns mit dem Letzteren.

Bel Canto beschreibt eine Gesangstechnik, welche die höchste technische Vollkommenheit und Entwicklung aller Klangmöglichkeiten zum Zwecke eines differenzierten Vortrags anstrebt. Das Adjektiv „bello“ bedeutet im Italienischen nicht nur „schön“ sondern auch „richtig“ oder „angemessen“. Wenn ein Ton wirklich schön ist, vereinbart er Ästhetik mit Naturgesetzen. Ein „schöner“ Ton kennt keine Grenzen. Der „schöne“ Ton ist keine Frage der Ästhetik oder des Geschmacks sondern der natürlichen Gesetzmäßigkeiten der Stimme.

Im seinem Werk “Bel Canto, a History of Vocal Pedagogy” (7) von James Stark heißt es: „Bel Canto bezieht sich weder ausschließlich auf eine einzige stilistische Epoche, noch ist es eine bestimmte Art, die Stimme einzusetzen. Es ist auf bestimmte stimmliche Gesetzmäßigkeiten aufgebaut. Diese Technik kann auf ein breites Spektrum von musikalischen Stilen aus vielen historischen Epochen übertragen werden, ohne ihre Integrität als fundamentale stimmliche Prinzipien zu verlieren.“ (…) Bel Canto ist eine Art zum Singen, in der eine fundamentale Stimmtechnik ein großes Spektrum an musikalischen Stilen auffängt.“

Bel Canto ist keine Methode. Es ist eine Arbeitsweise, welche die natürlichen Reflexe des Stimmorgans reaktiviert und koordiniert. Diese Technik ist auf eine Vielzahl von Genres übertragbar. Die Belcanto-Lehrer wussten, dass sich die Stimme in zwei Register unterteilt. Sie haben die Grundlage für die Entwicklung der Prinzipien der Stimmentwicklung begründet. Ihre Arbeit hat sich hauptsächlich um die Ausbildung und Vereinigung der Register fokussiert.

Das Ziel von Bel Canto war und ist die absolute Differenzierung des Spektrums der Stimme zu ermöglichen. Das bedeutet, dass die Stimme auf jedem Ton im gesamten Umfang, auf jedem Vokal jede Qualität produzieren kann. Dieses ist ein sehr hohes Ziel und vielleicht selten erreichbar. Aber wir streben es an.

Die Prinzipien der alten Meister des Bel Cantos wurden von Cornelius L. Reid in seinem Werk über die „Funktionale Stimmentwicklung“ (5) zusammengefasst. Als Funktionale Stimmentwicklung bezeichnet man die Ausbildung der Stimme auf Grundlage von natürlichen physiologischen Gesetzmäßigkeiten der Stimmfunktion. Das ist keine Methode, sondern eine Zusammenfassung von Prinzipien.

Jeder gesungene Ton lässt sich aus Tonhöhe, Lautstärke und dem Vokal zusammensetzen. Diese drei Parameter weisen eine Entsprechung in den Funktionen des Kehlkopfes auf. Sie sind demnach unmittelbar mit einer bestimmten Einstellung der Kehlkopfmuskulatur verknüpft. Aufgrund dieses direkten Zusammenhanges ist es möglich, durch gezielt angewandte Vokalisen bestimmte Stimm-Funktionen zu stimulieren und die damit verbundene Koordination der Kehlkopfmuskeln systematisch zu trainieren. Alle wesentlichen Übungen der Funktionalen Stimmentwicklung sind durch die differenzierte Zusammensetzung der elementaren Parameter (Vokal, Tonhöhe, Lautstärke) auf eine genaue stimmliche Anforderung zugeschnitten.

Die Stimme hat eine Selbstorganisations-Fähigkeit. Überartikulation, Überbrüstung und erhöhter Atemdruck sind Kompensationsmechanismen, die die Selbstorganisation der Stimme nachhaltig blockieren. Die Stimme kann man nicht willentlich steuern. Die Mechanik der Stimme gehört zum größten Teil dem vegetativen Nervensystem. Die Übungen sind so konzipiert, um Blockaden abzubauen und die inneren Reflexe zu wecken. Jegliche Manipulation von außen verhindert diesen Prozess. Die funktionale Arbeit bewirkt eine Reduktion der Kompensationsmuster und eine Aktivierung der reflektorischen Stimmfunktionen.

Da funktionales Training keine Methode ist, sondern eine Ansammlung von Prinzipien, erlangt man bei der technischen Arbeit viel Freiraum, solange man sich an diesen Prinzipien hält.

Funktionaler Unterricht bildet die Stimme unmittelbar unter Einbezug von Vokalisen aus. Jede Übung wird genau auf das jeweilige Stimmproblem abgestimmt. Durch die Kombinationen von Tonhöhe, Lautstärke und Vokal werden die organischen Reflexe des Stimmorgans wieder hergestellt. Dieser Prozeß grenzt oft an Stimmtherapie. Heute wird vielmehr versucht, nach verbaler Anweisung eine bewusste Steuerung körperlicher Vorgänge, wie die des Atmens oder der Ansatzrohr-Einstellung vorzunehmen, die mit dem Phänomen Stimme assoziiert sind, in der Hoffnung, dadurch eine Verbesserung der Stimmqualität zu erzielen. Themen wie Atmung, Resonanz und Stütze finden in den ersten Bel Canto Phasen gar keine Erwähnung. Man arbeitet vielmehr nach dem Prinzip, dass die Atmung und die Resonanz-Faktoren dem Kehlkopf untergeordnet sind.

Wie überzeugen wir jungen Sängern, sich in diesen komplexen Prozess mit einzusteigen?
Da die innere Mechanik der Stimme nicht sichtbar ist, arbeitet der Gesangslehrer mit funktionalem Hören, um eine Analyse des Zustands der Stimme zu machen. Jede Klangfarbe, jede Bewegung und jedes Geräusch geben wertvolle Information, die in eine Diagnostik verarbeitet wird. Danach werden Übungen auf die aktuelle Problematik konzipiert und angewendet. Dieser Prozess ist häufig für die Schülerinnen mit Kontrollverlust (wie z.B. Instabilität der Tongebung oder Intonationsschwankungen) verbunden. Das ist für junge Sängerinnen oft unangenehm. Aber schon nach einigen Wiederholungen ist oft eine spürbare und hörbare Veränderung zu verzeichnen.

Literaturverzeichnis:

1) Peter Bernes Lecture on Bel Canto https://www.youtube.com/watch?v=xt2mo2Wea0s
2) Frederick Husler/Yvonne Rodd-Marling, Singen, Schott, ISBN 3-7957-0066-3
3) Cornelius L. Reid, Bel Canto, Principles and Practices, Patelson, New York ISBN 0-915282-01-1
4) Cornelius L. Reid, Funktionale Stimmentwicklung, Schott, ISBN 3-7957-8723-8
5) Simon Sinek, On Millenials in the Workplace https://www.youtube.com/watch?v=hER0Qp6QJNU
6) James Stark, Bel Canto, A History of Vocal Pedagogy, University of Toronto Press ISBN 0-8020-8614-4